Der Ring des Gyges

Ein moralisches Gleichnis von Platon (427-347 v. Chr.)

Gyges war ein Schäfer, der dem Herrscher von Lydien diente. Eines Tages nach einem furchtbaren Sturm, und einem Erdbeben, das die Erde spaltete, entdeckte er eine alte Grabkammer und fand dort einen goldenen Ring.

„Als er nun unter den andern [Hirten] saß, drehte er zufällig den Stein des Ringes gegen sich ins Handinnere; dadurch wurde er seinen Nachbarn unsichtbar, denn sie sprachen von ihm, als wäre er nicht da. […] Da er dies erkannte, erreichte er sofort die Wahl unter die Königsboten. Dort angekommen, verführte er die Gattin des Königs, verschwor sich mit ihr gegen den König, tötete ihn und ergriff die Macht. – Wenn es nun zwei solcher Ringe gäbe, und den einen sich der Gerechte, den anderen der Ungerechte ansteckte, dann wäre wohl keiner aus solchem Stahl, dass er der Gerechtigkeit treu bliebe und es über sich brächte, von fremden Gut abzustehen und es nicht zu berühren; wo er doch vom Markt ohne Angst und unbemerkt nach Belieben nehmen, in jedes beliebige Haus eintreten, mit jeder Frau verkehren, jedermann töten und aus dem Gefängnis befreien, kurz unter den Menschen wandeln könnte wie ein Gott. Bei solchem Vorgehen würde er sich in nichts von dem Ungerechten unterscheiden, sondern beide gingen denselben Weg.“ (Politeia II, 358d-360d).

Interpretation:

Die grundlegende Frage dieses Platonischen Dialogs lautet: Was ist Gerechtigkeit? Und weiter: Ist es erstrebenswert, gerecht zu handeln? Einer der Gesprächsteilnehmer, Glaukon fordert Sokrates durch die These heraus, dass zwischen Gerechtigkeit und Wohlergehen nicht nur keine notwendige Verbindung besteht, sondern sogar umgekehrt ein Spannungsverhältnis. Dieses Spannungsverhältnis bleibt unter normalen Umständen verborgen, solange gesellschaftliche Sanktionen das Wohlergehen an gerechtes Handeln knüpfen. Die Existenz solcher Sanktionen verzerrt aber die Wahrnehmung des „tatsächlichen“ Verhältnisses zwischen Gerechtigkeit und dem glücklichen Leben. Das „tatsächliche“ Verhältnis zwischen diesen beiden Zielen, zeigt sich für Glaukon erst bei Abwesenheit äußerer Hindernisse. Gerechtigkeit kann dann kein Ziel für diejenigen sein, denen es um das glückliche Leben geht. Die Erklärung für gerechtes Handeln ist nicht etwa ein „guter Wille“ sondern einzig der „Zwang“, die Existenz gesellschaftlicher Sanktionen.

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